Vier Hundertjährige neben dem Kuhstall
Gemeinsam mit der Agrargenossenschaft Jückelberg eG lud die Goethe Gesellschaft Altenburg e. V. am Freitag, den 16. Juni 2023, zum 9. Altenburger Buchquartett ein. Gesprächsthema waren vier Werke von Autoren, die alle im Jahr 1923 geboren sind: Italo Calvino, Nadine Gordimer, Judith Kerr und Otfried Preußler.
In direkter Nachbarschaft zu den rund 350 Kühen des Betriebs haben die Mitarbeiter der Agrargenossenschaft Jückelberg keine Mühen gescheut, um die Werkstatthalle zu einem geselligen Treffpunkt für Bücherfreunde zu verwandeln. Etwa sechzig Gäste verteilten sich auf die bereitgestellten, liebevoll mit Blumen dekorierten Tische vor der Kritikerrunde des Buchquartetts. Der angekündigte Überraschungsgast musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen. So blieb es an diesem Abend beim bekannten Trio mit Kristin Jahn, Roland Krischke und Birgit Seiler. Der Verschiedenartigkeit und Fülle von Sichtweisen auf die Buchauswahl tat dies jedoch kaum einen Abbruch.
Das Altenburger Buchquartett bereist seit 2019 drei Mal im Jahr den Landkreis und gestaltet in den literarischen Metropolen des Altenburger Landes zum Lesen animierende Buchbesprechungen. Das Kapitel „Jückelberg und die Literatur“ muss allerdings noch geschrieben werden. Mangels eines lokalen Bezugs verwies Roland Krischke auf den Schweizer Schriftsteller Franz Hohler und dessen Werk „Eine Kuh verlor die Nerven“ sowie auf den österreichischen Essayisten und Erzähler Anton Kuh.
Um Anregungen dafür zu geben, verwies Roland Krischke (Direktor der Altenburger Museen) unter anderem auf den in Olten, der Partnerstadt von Altenburg, aufgewachsenen Franz Hohler und sein Werk „Eine Kuh verlor die Nerven“ sowie die beiden Gedichte „Des einen Freund“ und „Urgefühl“.
Nach dieser kurzen Abschweifung wurde der literarische Abend mit „Der Baron auf den Bäumen“ (1957) des Italieners Italo Calvino eröffnet. Es handelt sich um ein Erwachsenenmärchen, das in der Zeit der Aufklärung spielt. Erzählt wird von einem Heranwachsenden bürgerlicher Herkunft, der sich den Regeln und Zwängen seines Standes entzieht, indem er eines Tages nach einem Streit beim Mittagessen entscheidet, auf einen Baum zu klettern und fortan sein Leben zwischen den Wipfeln verbringt. Dabei wird er keineswegs zum Asketen, sondern mischt sich unter die einfachen Leute, liest und reist durch die Welt – ohne die Baumkronen zu verlassen. Ein skurriles Lesevergnügen, dass allerdings nur zwei der drei Kritiker begeistert hat. Für diejenigen, denen die Baumfantasien allzu abwegig erscheinen, hatte Birgit Seiler ein regionales Beispiel parat: Der Leipziger Brauereibegründer Maximilian Freiherr Speck von Sternburg errichtete zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits Plattformen in den Baumkronen seines Schlossparks Lützschena. Keinen Baron auf den Bäumen dafür einen Freiherrn im Baum hat das Altenburger Land mit Hans Wilhelm von Thümmel. Bekannterweise ließ sich der Minister in Sachsen-Gotha-Altenburg 1824 in der Nöbdenitzer Eiche begraben.
Im Gegensatz zu Calvino fußt der Roman „Burgers Tochter“ (1979) von der südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer auf dem Boden der Tatsachen. Sie schreibt über das Leben einer jungen Frau, die in einem hochpolitischen Umfeld im Kampf gegen die Apartheid aufwächst. Und dennoch gelingt es ihr, keine Propagandaschrift aus dem Buch werden zu lassen. Chronologische Sprünge und wechselnde Erzählperspektiven prägen ihre anspruchsvolle Erzähltechnik. Die Lesefreude an dem Buch wurde von den drei Kritikern sehr konträr beurteilt. Jedoch würdigten sie den Beitrag Nadine Gordimers im Kampf gegen das menschenverachtende System der Apartheid, das noch bis in die 1990er Jahre.
Kein leichtes Thema liegt auch dem Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (1971) von Judith Kerr zu Grunde. Es erzählt von der Flucht einer jüdischen Familie 1933 aus Deutschland, wie sie Judith Kerr als Tochter des berühmten Literaturkritikers Alfred Kerr selbst erlebt hat. Sie beschreibt die Geschehnisse aus Sichtweise der 9-jährigen Anna als Jugendbuch, das aber auch jeder Erwachsene gelesen haben sollte. Die zwei Folgebände dieser in Romanform gekleideten Autobiografie erzählen vom Exil in Paris und London und geben damit einen Rückblick auf die Zeit von 1933 bis 1956.
Eine einstimmige Leseempfehlung erteilt das Altenburger Buchquartett für Otfried Preußlers „Flucht nach Ägypten. Königlich böhmischer Teil“ (1978). Es ist das einzige Buch für Erwachsene des bekannten Kinderbuchautors. Der Vater von „Räuber Hotzenplotz“, „Krabat“ und „Die kleine Hexe“ verlegt den Weg der Heiligen Familie ins winterliche Böhmen des österreichischen Kaisers Franz Joseph, wo die k.k. Bürokratie einen gehörigen Anteil an der Irrfahrt der Protagonisten hat. Für zusätzlich amüsante Verwirrung sorgen der Erzengel Gabriel, der in Gestalt des Esels von der Krippe von Bethlehem die Reise begleitet. Der mittlere Oberteufel Pospišil dagegen sucht in Gestalt des Polizeihundes Tyras das glückliche Ende der Reise zu verhindern. Mit diesem unvergleichlichen Leseabenteuer endete dieser kritische Bücherspaziergang.
Bevor jedoch das Publikum in lockeren Gesprächen und mit vorzüglicher Verköstigung durch die Gastgeber den lauen Sommerabend ausklingen lassen konnte, gab es noch eine letzte Empfehlungsrunde, um die Sommerlektüre zusammenzustellen.
Weitere Leseempfehlungen des Altenburger Buchquartetts:
Birgit Seiler
- Angela Steidele: „Aufklärung. Ein Roman“ (Insel, 2022)
- Aron Boks: „Nackt in die DDR – Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat“ (Harper Collins, 2023)
Kristin Jahn
- Dirk Oschmann: „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung. Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet.“ (Ullstein, 2023)
- Nino Haratischwili: „Das achte Leben“ (Für Brilka) (Ullstein, 2017)
Roland Krischke
- Lindenau-Museum 1848 – 2023 (Sandstein Verlag, Dresden, 2023)
- Italo Calvino: „Der geteilte Visconte“ (dt. Oswalt Nostitz, Fischer Taschenbuch)
- Italo Calvino: „Der Ritter, den es nicht gab“(dt. Oswalt Nostitz, Fischer Taschenbuch)
- Marcin Wiatr: „Literarischer Reiseführer Galizien“ (Potsdamer Bibliothek östliches Europa – Kulturreisen, Potsdam 2022)